Vornehme Villen sind oft von einem ausgedehnten Park umgeben – im Fall von „Villa Giulia“ wurde auf die Villa selbst jedoch verzichtet und nur der Park angelegt. Auch die heute dort befindlichen „Exedren“, nischenartig sich öffnende Bauwerke, wurden erst 1872 errichtet; zu Goethes Zeit waren sie also noch nicht vorhanden. Ebenfalls erst in der Gründung befindlich war der Botanische Garten direkt neben der Anlage von „Villa Giulia“. Der „öffentliche Garten direkt an der Reede“, in dem Goethe seinen dichterischen Träumen nachgehen wollte, als ihn das Gespenst der Urpflanze wiederum erhaschte, war also dieser 1778 eröffnete erste öffentliche Gartenpark Palermos, zu Ehren der Gattin des Vizekönigs „Giulia“ benannt.
Goethe fühlte sich hier auf die Insel Scheria versetzt, auf der Odysseus strandete und Nausikaa, der Königstochter begegnete:
„In dem öffentlichen Garten unmittelbar an der Reede brachte ich im stillen die vergnügtesten Stunden zu. Es ist der wunderbarste Ort von der Welt. Regelmäßig angelegt, scheint er uns doch feenhaft; vor nicht gar langer Zeit gepflanzt, versetzt er ins Altertum.
(…) Aber der Eindruck jenes Wundergartens war mir zu tief geblieben; die schwärzlichen Wellen am nördlichen Horizonte, ihr Anstreben an die Buchtkrümmungen, selbst der eigene Geruch des dünstenden Meeres, das alles rief mir die Insel der seligen Phäaken in die Sinne sowie ins Gedächtnis.“ (Italienische Reise, 7. April 1787)
Hier entstanden nun die wenigen ausgeführten Textstellen seines Nausikaa-Entwurfes, der Goethe während seines ganzen Sizilienaufenthaltes so sehr umfing, dass er die meiste Zeit verträumte.
„Da wir uns nun selbst mit einer nahen Abreise aus diesem Paradies bedrohen müssen, so hoffte ich, heute noch im öffentlichen Garten ein vollkommenes Labsal zu finden, mein Pensum in der »Odyssee« zu lesen und auf einem Spaziergang nach dem Tale am Fuße des Rosalienbergs den Plan der »Nausikaa« weiter durchzudenken und zu versuchen, ob diesem Gegenstande eine dramatische Seite abzugewinnen sei. Dies alles ist, wo nicht mit großem Glück, doch mit vielem Behagen geschehen. Ich verzeichnete den Plan und konnte nicht unterlassen, einige Stellen, die mich besonders anzogen, zu entwerfen und auszuführen.“
(16. April 1787)
Der Grundriss des „öffentlichen Gartens“ folgt einem streng geometrischen Muster: ein Quadrat, durchschnitten von Diagonalen, in das wiederum ein auf die Spitze gestelltes Quadrat eingezeichnet ist. Dieses wiederholt sich im kleinen. Die Hauptwege bilden damit dreizehn Schnittpunkte, die zu Plätzen ausgestaltet sind, zwölf im Umkreis in vier Dreiecken, der dreizehnte aber in der Mitte, umgeben von einem Kreis, so dass sich eine Strahlenform ergibt und die Mitte vom Umkreis getrennt wird. Damit ist die Sonne repräsentiert, wie sie durch den Tages- und Jahreslauf geht. Dabei aber beleuchtet sie in unterschiedlicher Weise die zwölf Flächen des Dodekaeders, das als Sonnenuhr dient.
Dieses zeigt damit das himmlische Wirken in seiner Beziehung zum irdischen Leben. Zwölfheit und Fünfheit, Kosmos und Mensch sind in dieser Form vereinigt. Nimmt man jedes einzelne Pentagon als Zeichen des Menschen, erhält man in den zwölf Flächen, die sich unterschiedlich zur Sonne verhalten, ein Bild für die zwölf Menschentypen des Tierkreises oder die zwölf Apostel um Christus: Zwölf verschiedene Möglichkeiten gibt es, sich zur Sonne zu stellen. Doch bilden sie zusammen wiederum eine Einheit. So kann das Pentagondodekaeder auch als Zeichen des Christus gesehen werden, der die Zwölfheit umfasst.
Im Garten finden sich vielfältige plastische Darstellungen des Bildhauers Marabitti. In der hinteren Mitte, gegenüber dem ursprünglichen Eingang, befindet sich ein Brunnen mit der Darstellung des Genius‘ Palermos. In vielfältiger Symbolik sind hier die hervorragenden Eigenschaften der königlichen Stadt herausgestrichen: der Adler für die Königswürde, der Hund für die Treue, die Schlange, die die Brust beißt, für die Gastfreundschaft der Stadt auch für denjenigen, der sich ihr gegenüber als Feind erweist usw. Hier ist nun auch die ausdrucksvolle Darstellung der Triskele mit dem Medusenhaupt, des Wahrzeichens Siziliens, angebracht. Die Aufschrift in griechischen Buchstaben bedeutet „TAN PANORMI“, zu deutsch: „Alles (für) Palermo“.
In der Anlage des Parkes wirkte ein strenger Gestaltungswille, der eine klare Idee zum Ausdruck bringen wollte: Das Irdische sollte so strukturiert werden, dass seine Beziehung zum Geistigen zum Ausdruck kommen konnte. Die Grundform des Quadrats wird durch die Diagonalen in Dreiecke zerlegt – das Symbol des Irdischen trägt in sich das Symbol des Geistigen. Doch auch das auf die Spitze gestellte Quadrat, die Raute, die zugleich aus zwei Dreiecken besteht, sowie das Kreuz aus den Diagonalen (als „Andreaskreuz“ bekannt), kann als Symbol für den Bezug zum Geistigen gesehen werden.
„Villa Giulia“ ist ein nach geistigen (geometrischen) Gesetzen gestalteter Naturraum, in dem nichts willkürlich oder zufällig erscheint. Auch, dass Goethe hier nach der Urpflanze suchte, dürfte nicht nur der hier damals vorhandenen Fülle von Pflanzen geschuldet sein, sondern gerade auch dieser Tatsache eines Raumes, der geistige wie natürliche Gesetze gleichermaßen zur Erscheinung bringt. Das Pentagondodekaeder in seiner Mitte aber kann wie als Keim angesehen werden, der sich dann im Goetheanum zu seiner vollen Blüte entfaltete. Seine beiden Kuppeln verhielten sich zueinander wie der Innenkreis zum Außenkreis des Dodekaeders. Es trug in seiner Gestaltung die Formen der Metamorphose, die Goethe mit seiner Metamorphose der Pflanze entwickelte.
Metamorphosen bedeuten immer einen Durchgang durch einen geistigen Raum, sonst handelt es sich um Variationen. Dieser Raum bedeutet „ein Nichts, in dem sich das All finden lässt“, „Gestaltung, Umgestaltung“, wie es über das Reich der Mütter, der Urbildkräfte, heißt. Auf diesen geistigen Raum, der dem mephistophelischen Weltanschauen nur als Nichts gelten kann, in dem aber die geistigen Urbilder im Spannungsfeld der Tierkreiskräfte weben, ist in der Anlage von Villa Giulia gemeint.
Tierkreiskräfte führen in die Form, in die Spezifizierung einer Art. Deswegen ist der Tierkreis so benannt, auch wenn ein Teil seiner Zeichen nichts mit Tieren zu tun haben. Das Sonnenwesen in der Mitte aber hält sich frei vom Bestimmenden dieser Kräften, bleibt im freien Spiel der Verwandlung. Die Pflanze ist so ein Sonnenwesen, das sein Kleid im Zusammenklang der Planetenrhythmen webt, ohne in die Festigkeit der Tierkreiskräfte einzutauchen.
Goethe suchte dieses Sonnenwesen der Pflanzen als „Urpflanze“, aus dem alle Pflanzen hervorgehen könnten:
„Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben.“ (Italienische Reise, 17. Mai 1787)
Martin-Ingbert Heigl
November 2013